Christian Hartung - Pfarrer und Schriftsteller
Predigt über Jesaja 66,8-14a (10. Januar 2016 Kirchberg und Kappel) (Übersetzung des Predigttextes: Zürcher Bibel, 2007) "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." Dieses Prophetenwort aus dem Jesajabuch ist dieses Jahr unsere Jahreslosung. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet: Es gibt vieles, wo wir Trost brauchen. Der schreckliche Unfall bei Kludenbach. Krieg, Terror und Zerstörung in der ganzen Welt. Zig Millionen Entwurzelte und Fliehende. Die brutalen Attacken Hunderter Männer auf junge Frauen in der Silvesternacht - die viele Gewalt gegen Frauen und Kinder oder gegen schwächere Männer auch sonst, auch durch Deutsche. Andere traurige und beängstigende Nachrichten in unserem Umfeld. Krankheit, Tod, Streit, Scheidung. Ich könnte die ganze Predigt lang nur aufzählen und wäre trotzdem nicht fertig. "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." Oh ja, wir brauchen Trost! Nichts dringender als das! In welchem Zusammenhang steht dieser Satz eigentlich im Jesajabuch? Ich lese einmal einen etwas größeren Abschnitt nach einer neueren, etwas wörtlicheren Übersetzung. Der Prophet wendet sich an die Menschen, die im zerstörten Jerusalem überlebt haben oder die daraus geflohen sind und nun zurückkehren. Zion, das ist ein alter anderer Name für Jerusalem. Wir kennen ihn aus dem Adventslied "Tochter Zion". Der Prophet lässt Gott selbst sprechen: Wer hat solches gehört? Wer hat dergleichen gesehen? Wird ein Land an einem einzigen Tag zur Welt gebracht? Oder wird eine Nation auf einmal geboren? Kaum in Wehen, hat Zion ihre Kinder auch schon geboren! Sollte ich es bis zur Geburt kommen und sie nicht gebären lassen?, spricht der HERR. Oder sollte ich, der ich gebären lasse, den Schoss verschliessen?, spricht dein Gott. Freut euch mit Jerusalem, und jauchzt über sie, alle, die ihr sie liebt! Frohlockt von Herzen mit ihr, alle, die ihr um sie trauert! Damit ihr trinkt und satt werdet an der Brust ihres Trosts, damit ihr schlürft und euch erquickt an ihrer prall gefüllten Mutterbrust. Denn so spricht der HERR: Sieh, wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr und den Reichtum der Nationen wie einen flutenden Fluss, und ihr werdet trinken, auf der Hüfte werdet ihr getragen, und auf den Knien werdet ihr geschaukelt. Wie einen, den seine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten, und getröstet werdet ihr in Jerusalem. Und ihr werdet es sehen, und euer Herz wird frohlocken, und eure Knochen werden erstarken wie junges Grün.Das Bild von der Mutter wird nicht nur für Gott verwendet, sondern für die ganze Stadt. In diesem Textabschnitt spielen eigentlich nur Frauen und Kinder eine Rolle. Angesprochen werden aber bestimmt Männer und Frauen. Aber Gott erinnert die Erwachsenen daran, wie sie als kleine Kinder waren. Sie haben an der Brust ihrer Mutter getrunken, sie sind auf der Hüfte getragen worden, was Frauen wirklich besser können als Männer - wir Männer müssen die Kinder schon richtig in die Arme nehmen oder auf den Schultern tragen! - und sie wurden auf den Knien geschaukelt - das habe ich bei meinen Jungs allerdings auch gerne und viel getan! Vor und nach diesem Textabschnitt ist wieder viel Kriegsgeschrei und Rachegetöne. Und dann dazwischen hier diese Bilder aus dem Kinderzimmer! Und nicht nur Gott ist so mütterlich, die ganze Stadt ist es. Das heißt für mich: Wir müssen ganz anders miteinander umgehen als bisher. Schon vor 2500 Jahren hat der Prophet das deutlich gesehen. Aber wir haben uns leider so gut wie gar nicht daran gehalten. Unsere Welt ist geprägt von männlicher Herrschaft und Gewalt. Frauen passen sich dem an und machen mit. Dennoch sind es vor allem Frauen, freilich immer wieder und heute vielleicht sogar immer mehr auch Männer, die andere Werte hochhalten und leben. Mütterlichkeit, Barmherzigkeit, Trost, Zärtlichkeit. Das sind vielleicht keine Eigenschaften, mit denen man Weltreiche bauen kann. Aber mit den Weltreichen funktioniert das ja auch so nicht. Persien, Griechenland, Rom, die islamischen Sultane und Kalifen, die Kaiser bis zu Napoleon und Wilhelm II, Diktatoren wie Hitler und Stalin, dann der kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion, heute die USA, China und all die vielen kleineren und größeren Mächte - hat da jemals irgendetwas funktioniert?! In der Regel werden diese Mächte aus Krieg geboren und versinken wieder im Krieg. Unendlich viele Menschen kostet es das Leben. Elend und Zerstörung ohne Ende. Und wozu das Ganze? Schaut man auf das Ende, dann kann man immer wieder nur sagen: für nichts und wieder nichts! Gott lässt gebären, sagt der Prophet. Gott ist ein Gott des Lebens. Als so ein Gott des Lebens tröstet, nährt, trägt und liebkost er. Ja, ich weiß, unsere Sprache gibt das nicht her, aber eigentlich müsste man doch zumindest hier von Gott als "sie" sprechen. Gott nicht wieder nur als Vater, Herr und König, als Verlängerung all der irdischen Väter, Herren und Könige, sondern Gott als Mutter, die ihre Kinder liebt und sich beständig Sorgen um sie macht. Das hört ja nicht auf, wenn die Kinder groß sind. Ich habe genügend Mütter von erwachsenen Kindern vor Augen, mit ihren Sorgen und ihrem Kummer, natürlich auch mit ihrem Glück und ihrer Freude. Das sind aber die entscheidenden Eigenschaften, die wirklich dem Leben dienen. Die dazu beitragen, dass das Leben weiter geht. Auch heute Morgen sind ja wieder mehr Frauen als Männer in der Kirche. Ihr wisst besser als ich, was ich meine. Natürlich kann man Gott nicht auf die mütterlichen Eigenschaften reduzieren, genauso wenig wie auf die väterlichen, was aber meistens so geschieht. Als Menschen haben wir nur eine Chance, wenn wir uns als Frauen und Männer gemeinsam um diese Welt sorgen und kümmern. Doch nach dem jahrtausendealten und doch immer wieder neu produzierten Scheitern einseitig männlicher Strategien ist es allerhöchste Zeit für eine völlige, radikale Umkehr. Schon der Prophet hat diese Umkehr im Blick gehabt. Das ist, wie gesagt, etwa 2500 Jahre her … Wir brauchen keine Kriege, wir brauchen keine Gewalt zwischen Menschen. Und das heißt noch lange nicht, dass wir jetzt alle immer nur lieb sein müssen! Streit gehört zum Leben dazu. Aber Streit auf Augenhöhe und mit friedlichen Mitteln. Streit, der nicht die Vernichtung des anderen zum Ziel hat - oder diese Vernichtung zynisch als Mittel einsetzt um irgendwelcher angeblich höheren Ziele willen. Das darf nie geschehen! Menschen dürfen einander so etwas nie und unter keinen Umständen antun! Allerdings ist die Lage unter uns Menschen seit Jahrtausenden derart verfahren, dass es ohne Gewalt leider auch nicht geht. Aber dann sollte es kontrollierte Gewalt von Armeen oder Polizeitruppen sein, die eine demokratische Gesellschaft beauftragt und überwacht. Unsere Welt ist trostlos, die kleine wie die große. Die Inseln des Glücks drohen in dieser Trostlosigkeit immer wieder unterzugehen. Darum ist Trost so wichtig! Nur wer trösten kann und barmherzig ist, dürfte Verantwortung und gar Macht anvertraut bekommen. "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." Wie eine liebevolle Mutter gibt Gott uns immer wieder eine Chance. Nun nutzen wir sie doch endlich! Predigt über Lukas 6,36 (28. Juni 2015 Kirchberg) Am 5. Dezember 1943 versammelten sich im Kopenhagener Dom Hunderte von Menschen zu einem besonderen Gottesdienst. Der Prediger sprach an einer Stelle über die Barmherzigkeit. Und er fand dafür einen Ausdruck, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht: "das Grundgesetz im Reich Christi". Wenige Monate vorher hatten auch in Dänemark die Judenverfolgungen begonnen. Doch die meisten dänischen Juden konnten mit Fischerbooten ins sichere Schweden geschafft werden. Nachbarn haben ihre Nachbarn versteckt und ihnen zur Flucht geholfen. Und die Pfarrer haben von allen Kanzeln ein Hirtenwort ihrer Bischöfe verlesen, das heftig gegen die Judenverfolgung protestierte. Die Juden sind genauso dänische Bürger wie alle anderen auch, hieß es in diesem Hirtenwort - und Jesus selbst war doch Jude. Und nun dieser Gottesdienst im Kopenhagener Dom. Die Leute sind durch Mundpropaganda gekommen: Kaj Munk predigt! Kaj Munk, das war damals der bekannteste Pfarrer Dänemarks. Munk hat die deutsche Besatzung heftig kritisiert und seine Landsleute zum Widerstand aufgerufen. Verbotenerweise hat er seine Predigt gehalten und ist gleich darauf wieder verschwunden, bevor man ihn hätte festnehmen können. In der Predigt sagt er: "Wenn in diesem Land eine Verfolgung gegen eine besondere Gruppe unserer Landsleute nur wegen ihrer Abstammung begonnen wird, dann ist es das christliche Recht der Kirche, zu rufen: Das widerspricht dem Grundgesetz im Reich Christi, nämlich der Barmherzigkeit. Und die Kirche muss noch weitergehen, ohne sich ermüden zu lassen; geschieht dies noch einmal, dann wollen wir mit Gottes Hilfe versuchen, das Volk zum Aufstand zu bringen." Ein "christliches Volk" darf nicht einfach tatenlos dasitzen, während seine Ideale mit Füßen getreten werden, sagt er auch. Kaj Munk konnte noch sicher aus Kopenhagen zurück nach Hause reisen. Doch wenige Wochen später wurde er von einem Killerkommando der Gestapo aus seinem Pfarrhaus abgeholt und irgendwo an der Landstraße erschossen. Hitler selbst hatte befohlen, wichtige Persönlichkeiten zu töten, die in Dänemark zum Widerstand gegen die Deutschen aufriefen. Kaj Munk stand ganz oben auf der Liste. Ein christliches Volk - ich weiß nicht, ob die Dänen sich heute noch so nennen würden. Obwohl die evangelische Kirche in Dänemark noch Staatskirche ist. Wir Deutschen sind ganz bestimmt kein christliches Volk mehr. Aber doch ein Volk, das in seiner Geschichte ganz entscheidend vom Christentum geprägt wurde. Das Land der Reformation. In zwei Jahren feiern wir das ganz groß! Und jedes Jahr am 31. Oktober erinnern wir uns daran, wie der Mönch Martin Luther sich auf den Kern des christlichen Glaubens zurückbesonnen hat. Aber im Land der Reformation werden wir Christen allmählich zur Minderheit. Ich höre Menschen oft sagen, dass das Christentum in Deutschland immer mehr auf dem Rückzug sei. Irgendwann sind hier alle Kirchen Moscheen, heißt es dann gerne. Und dagegen muss man doch was tun! Nun sind Muslime eine noch erheblich kleinere Minderheit, als wir Christen es auf lange Sicht sein werden. Und das Christentum ist auch kein Wert an sich. Wir sind nicht dafür Christen, dass wir eben Christen sind. Sondern wir sind Christen, um nach der Richtschnur zu leben, die Christus uns mitgegeben hat. Darum nennt Kaj Munk die Barmherzigkeit das Grundgesetz des Reiches Christi. Das ist für uns sogar noch wichtiger als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland - das aber im Übrigen sehr gut dazu passt. Das gilt aber nicht für alle anderen Gesetze in unserem Land. Und schon gar nicht für den staatlichen Umgang mit diesen Gesetzen. Heute geht es bei uns nicht um die Juden. Doch als die damals verfolgt wurden, geschah das alles nach Gesetzen, die man extra dafür geschaffen hatte. Und ich schäme mich regelrecht, wenn ich an die deutlichen und mutigen Worte der damaligen dänischen Kirche denke. Wo waren diese Stimmen bei uns? Da reicht ein Bonhoeffer nicht. Und weder Bonhoeffer noch Paul Schneider wurden von der Leitung ihrer Kirche unterstützt, anders als in Dänemark. Nein, heute geht es bei uns nicht um die Juden. Aber um die Flüchtlinge, die aus anderen Ländern zu uns fliehen, so wie die Juden damals versuchten, in andere Länder zu entkommen. Das Wort "barmherzig" wird auch von Kirchenvertretern heute eher selten in den Mund genommen. Dafür gibt es heute Worte wie "humanitär". Das heißt einfach: "menschlich". Egal. Das, was teilweise in unseren Ämtern passiert, ist unmenschlich und unbarmherzig. Und die Äußerungen mancher Politiker und Politikerinnen sind es ebenfalls. Ich kenne inzwischen etliche Geschichten der Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind. Die meisten sind so jung, sie könnten meine Kinder sein. Ich kann meinen Söhnen heute Perspektiven in Deutschland anbieten. Das hätte ich in diesem Land auch nicht immer gekonnt. Und was, wenn wir zufällig in Ägypten, Syrien oder Somalia aufgewachsen wären? Dass in Syrien alles drunter und drüber geht, ist ja bekannt. Da will man doch einfach nur weg, wenn es irgend geht. Die meisten schaffen es gar nicht einmal weit. Gerade aus dem Land heraus. Dann bleiben sie im Libanon, in der Türkei und in Jordanien, in riesengroßen Lagern. Die Hunderttausende, die es dieses Jahr bis zu uns geschafft haben, sind immer noch nur ein Bruchteil all dieser Flüchtlinge. Oder Ägypten. Die Ägypter, die sich zu uns geflüchtet haben, sind Christen. Radikale muslimische Landsleute schieben ihnen den Militärputsch vor zwei Jahren in die Schuhe. Das stimmt natürlich nicht - aber leider unterstützen die ägyptischen Bischöfe den jetzigen Militärdiktator, wo sie nur können. Was man natürlich auch verstehen kann, denn er verspricht immer wieder, die Christen zu schützen. So nach dem Motto: Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde! Wenn ich Christ in Ägypten wäre, würde ich zusehen, dass ich da raus komme. Oder Somalia. Bundesinnenminister de Maizière hat vor einigen Monaten in einem Interview gesagt, das seien Wirtschaftsflüchtlinge. Nach dieser Definition sind die syrischen Flüchtlinge ebenfalls Wirtschaftsflüchtlinge. Somalia ist nach Jahrzehnten Bürgerkrieg am Boden zerstört. Eine islamistische Terrormiliz versucht, das Land in ein Kalifat umzuwandeln. Alle jungen Männer werden gezwungen, bei der Miliz mitzumachen. Die, die das nicht wollen - es sind Gott sei Dank bei Weitem die meisten - die fliehen. Und kommen nach teilweise jahrelanger Flucht zu uns. Ich bin fest davon überzeugt: Als Christ ist es meine Aufgabe, diesen Menschen zu helfen. Auch wenn sie Muslime sind. Die dänischen Juden waren auch keine Christen. Und viele deutsche Juden waren übrigens längst Christen, trotzdem hat ihnen kaum jemand geholfen. Als Christ ist für mich das Grundgesetz des Reiches Christi verbindlich. Und das hat Christus uns als Gesetz mitgegeben: Seid armherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Wir dürfen uns an Gott selbst orientieren und das tun, was Gott uns zutraut. Predigt über Lukas 20,9-20 (1. März 2015, Kirchberg) Kennt ihr das aus Filmen: Da sitzt so ein Mensch auffällig unauffällig in einem Hotelfoyer hinter einer ausgebreiteten Zeitung? Oder da lungern zwei Typen auf der Straße im Schatten - und sobald der Held aus dem Haus kommt, lösen die Typen sich aus dem Schatten und gehen ganz unauffällig hinter ihm her. Oder ein Auto fährt plötzlich vom Straßenrand los, reiht sich ganz ruhig in den Verkehr ein und verfolgt den Helden. Und der guckt viel zu spät in den Rückspiegel. Wenn ich das in einem Film sehe, dann weiß ich: Jetzt geht's los! Jetzt wird's brenzlig! Und ich möchte fast wie früher im Kasperle-Theater dem Helden zurufen: Pass auf! Hinter dir! Und fast noch schlimmer als diese Spitzel und Ausputzer sind die, die den Helden dann irgendwo verraten und denunzieren. Oder die einen Vorwand produzieren, damit man ihn verhaften kann. Dann trommelt die Gestapo oder die Stasi oder wer auch immer frühmorgens an die Tür und brüllt: Aufmachen! Und dann treten all die brutalen, finsteren Gestalten einen Schritt beiseite - und der fiese Widerling tritt ganz ruhig und lächelnd auf und verhaftet den Helden. Der weitere Weg ist klar: Der Held wird jetzt in irgendeinen Keller gesperrt und Tag und Nacht vernommen, geschlagen und gefoltert. Und wenn man ihn nicht mehr braucht, dann fährt man ihn vor die Stadt, erschießt ihn und lässt ihn irgendwo an der Straße liegen. In Filmen gibt es solche Geschichten. Leider auch in Wirklichkeit. Und auch hier in der Bibel. Das ist hier ganz genau so eine Geschichte. Brutal, düster, ausweglos. Ein Film, den wir unseren Kindern verbieten und vielleicht auch selber nicht gucken, weil er so düster und hart ist. Ja, an dieser Stelle ist klar: Jesus ist verloren. Den rettet jetzt nichts mehr. Es ist nicht mehr die Frage, ob er vor die Hunde geht, sondern nur noch, wann. Und auch das ist jetzt eigentlich klar: ziemlich bald. Die Messer sind gewetzt. Das Urteil ist längst gesprochen. Der muss weg. Aber ohne viel Aufsehens. Heimlich im Schutz der Nacht. Irgendwo in einer abseitigen Gasse, einem Hinterhof oder einem einsamen Garten. Dann ein Schnellurteil, ein bisschen Folter und rasch draußen vor der Stadt um die Ecke gebracht. Ja, so eine Geschichte ist das hier. Und weil wir wissen, wie sie ausgeht, wie sie einfach ausgehen muss - darum brauchen wir uns eigentlich auch gar nicht mehr groß mit dem zu beschäftigen, was davor kommt. Dabei ist das äußerst interessant. Und hier ist unser Held doch wirklich unser Held! Unsere Herzen fliegen ihm zu, wir hängen an seinen Lippen! Einfach cool, wie der da aufsteht und gegen all die Mächtigen und Unangenehmen redet. Und dabei kein Blatt vor den Mund nimmt: Er erzählt ein Gleichnis, eine ausgedachte Geschichte - doch sie verstehen genau, dass hier von ihnen die Rede ist. So wie die Weinbauern sich in dieser Geschichte benehmen, so benimmt sich doch kein normaler Mensch. Völlig unrealistisch! Ja, aber die unrealistischsten Geschichten schreiben nicht die Drehbuch- und Romanautoren, die schreibt das Leben selbst! Und es gibt eine einfache Erklärung: Die bösen Weinbauern handeln so, weil sie es können. Niemand hindert sie daran. Niemand steht ihnen im Weg. Niemand scheint über ihnen zu stehen. Sie können machen, was sie wollen. Und die anderen sind völlig ohnmächtig. Die werden verprügelt, misshandelt, blutig geschlagen und rausgeschmissen. Ja, das gibt es leider auch in Wirklichkeit. Der junge Mann, der da vor ein paar Monaten die Studentin auf dem Parkplatz vorm Macdonalds totgeschlagen hat. Nur weil sie sich eingemischt hat, als er mit einem Kumpel zwei jüngere Mädchen belästigt hatte. Der Arzt in Gemünden, der vor ein paar Jahren vor der Grillhütte derartig zusammengeschlagen wurde, dass er nie wieder richtig gesund wurde. Der war da wohl irgendwo im Weg und jemand hatte ein paar Bier zu viel im Bauch und ein paar Muskeln zu viel an den Armen. Jeder wusste, wer es war, aber irgendwie wurde das nicht richtig verfolgt. Schläger, die bei einer Abifete als Türsteher eingestellt werden und dann harmlose Gäste vermöbeln. Typen, die Stress suchen, weil sie sich langweilen. Die in ihren Drogengeschäften nicht gestört werden wollen. Die eigene Gesetze für sich haben - und selbst die Polizei traut sich dann da nicht mehr hin. Schüler, die andere Schüler bedrohen und erpressen. Der Besitzer des Weinbergs setzt zum Schluss auf Liebe und Respekt. Das sind beides Fremdworte für solche Typen. Da schlagen die noch einmal drauf und dann ist Ruhe. Und sie haben, was sie haben wollten. Das Revier gehört ihnen. Wenn ich solche Geschichten nun auch noch in der Bibel lese, dann wünsche ich mir, dass da jetzt mal jemand eingreift, dreinschlägt und für Ordnung sorgt. Ja, in der Geschichte, die Jesus erzählt, passiert das sogar: Der Weinbergbesitzer kommt da am Ende selbst, bringt die Weinbauern um und verpachtet seinen Weinberg an andere. Na ja, irgendwie schon richtig, denke ich. Aber der Sohn, der wird davon auch nicht wieder lebendig. Und für die krankenhausreif geschlagenen Knechte kommt die Aktion auch ein bisschen spät. Ja, die Bibel steigt nicht einfach aus der Realität aus. Diese Geschichte hier wird wirklich übel ausgehen, das wissen wir ja. Am Ende steht das Kreuz. Aber gerade wenn wir uns damit nicht abfinden wollen, können wir hier einmal genauer hinschauen. Denn die Geschichte könnte ja auch ganz anders erzählt werden. Etwa so: In Jerusalem herrschen die Römer. Ihr Gouverneur Pontius Pilatus hält die Provinz fest im Griff. Wer aufmuckt, wird beseitigt. Darum muckt keiner mehr auf. Den Betrieb auf dem Tempel lässt Pilatus ruhig weiterlaufen. Wenn die Leute ihren Trost in der Religion haben, sind sie fügsamer. Dann sind sie ja beschäftigt und träumen sich in eine bessere Welt. Da tritt eines Tages ein junger Prediger auf. Jesus von Nazareth. Er sammelt die Leute in Scharen um sich. Die Mächtigen werden unruhig und schicken ihre Beobachter und Aufpasser. Doch die beruhigen die Mächtigen bald: Kein Grund zur Panik. Der erzählt nur hübsche kleine Geschichten. Völlig harmlos. Lasst ihn weitererzählen, dann kommen die Leute auf keine dummen Gedanken. Und Jesus wird alt. Pilatus wird von einem anderen Gouverneur abgelöst, aber die Römer bleiben im Land. Und der alte harmlose Jesus hilft der römischen Besatzung. Er erzählt seine niedlichen Geschichten und die Leute sind abgelenkt. Leider wird die Bibel manchmal so verstanden. Als eine Sammlung niedlicher, harmloser, erbaulicher Geschichten für die Kinder. Doch Jesus hat Geschichten erzählt, die den Mächtigen und Grausamen seiner Zeit einen Spiegel vorhalten. Jesus sagt damit: Glaubt nicht, dass ihr alles tun könnt und keinen über euch habt. Ihr verbreitet Angst, weil ihr selber Angst habt. Angst um eure Macht. Diese Angst ist berechtigt, denn eure Macht wird nicht ewig sein. Einmal ist auch sie zu Ende und dann bleibt euch gar nichts mehr. Doch alle anderen wissen, dass es lohnt, auf Liebe und Respekt zu setzen. Es ist ein mühsamer Weg. Ein Weg voller Misserfolge. Und keiner von uns bleibt auf diesem Weg ohne Schuld. Doch es ist der einzige Weg, auf dem wir wir selbst bleiben und nicht zu grausamen Monstern mutieren. Es ist der einzige Weg, auf dem wir letztendlich am Leben bleiben. Ein Leben in Gottes Hand. Wie finster es auch um uns herum werden wird.
Dieses Buch vereint Predigten aus zwanzig Jahren, die mit unterschiedlichen Erzählmethoden arbeiten. Gerade abstrakte biblische Texte lassen sich leichter verstehen, wenn ihr Anliegen in eine Erzählung eingebettet wird. Dies gilt vor allem für die neutestamentlichen Episteltexte. Hier begegnen sie dem Leser und der Leserin im Rahmen einer Talkshow, in der die Freiheit, die Selbstsucht, die Liebe und das Gesetz miteinander ins Gespräch treten; als Weihnachtsgeschichte, die den Predigttext als Lied umdichtet – oder als Briefwechsel des Apostels Paulus mit seiner Mutter. Doch die Bibel erzählt ja selbst unendlich viel. Diese Erzählungen nehmen viele der Geschichten und Legenden dieses Buches auf, spinnen sie fort, variieren sie, suchen zwischen den Zeilen oder erzählen die bekannte Geschichte von einem anderen Ende. Mose tröstet Gott; Jeremia sucht Gott, der sich in den Himmel zurückgezogen hat und niemanden mehr empfängt; Josef schnitzt ein Holzeselchen, nachdem ihm die Geburt Jesu angekündigt wird; der Erzengel Michael und der Höllenfürst Luzifer überlegen gemeinsam, wie sie die Menschen wieder vom Unterschied zwischen Gut und Böse überzeugen können. "Von der Kanzel erzählt"!
Christian Hartung: "Von der Kanzel erzählt. Legenden, Geschichten, Predigten” Fromm Verlag, Saarbrücken, 2011
ISBN: 978-3-8416-0079-0
Weitere Predigten: